Der (steuerliche) Ort einer wirtschaftlichen Tätigkeit

Die Beurteilung, von welchem Ort ein Unternehmer sein Unternehmen betreibt oder an welchem Ort -unionsrechtlich- der Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit ist, obliegt dem Finanzgericht als Tatsacheninstanz.

Der (steuerliche) Ort einer wirtschaftlichen Tätigkeit

Nach § 1 Abs. 1 Nr. 1 Satz 1 UStG unterliegen der Umsatzsteuer die Lieferungen und sonstigen Leistungen, die ein Unternehmer im Inland gegen Entgelt im Rahmen seines Unternehmens ausführt. Dies beruht auf Art. 2 Abs. 1 Buchst. a und c der Richtlinie 2006/112/EG des Rates vom 28.11.2006 über das gemeinsame Mehrwertsteuersystem (MwStSystRL).

Nach § 3a Abs. 1 UStG wird eine sonstige Leistung an dem Ort ausgeführt, von dem aus der Unternehmer sein Unternehmen betreibt. Abweichend davon wird nach § 3a Abs. 2 Satz 1 UStG eine sonstige Leistung, die an einen Unternehmer für dessen Unternehmen ausgeführt wird, grundsätzlich an dem Ort ausgeführt, von dem aus der Empfänger sein Unternehmen betreibt. Wird die sonstige Leistung an die Betriebsstätte eines Unternehmers ausgeführt, ist stattdessen der Ort der Betriebsstätte maßgebend (§ 3a Abs. 2 Satz 2 UStG). § 3a UStG ist richtlinienkonform auszulegen[1].

Unionsrechtlich beruht § 3a Abs. 2 Satz 1 und 2 UStG auf Art. 44 MwStSystRL. Nach Art. 44 Satz 1 MwStSystRL gilt als Ort einer Dienstleistung an einen Steuerpflichtigen, der als solcher handelt, der Ort, an dem dieser Steuerpflichtige den Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit hat. Der Unionsgesetzgeber hat diesen Anknüpfungspunkt als vorrangigen gewählt, da er als objektives, einfaches und praktisches Kriterium große Rechtssicherheit bietet[2]. Der Ort einer Dienstleistung kann auch nicht deshalb geändert werden, weil bei dem betreffenden Umsatz Mehrwertsteuer hinterzogen wurde[3].

Als Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit eines Steuerpflichtigen gilt nach Art. 10 Abs. 1 MwSt-DVO der Ort, an dem die Handlungen zur zentralen Verwaltung des Unternehmens vorgenommen werden. Zur Bestimmung des Ortes werden der Ort, an dem die wesentlichen Entscheidungen zur allgemeinen Leitung des Unternehmens getroffen werden, der Ort seines satzungsmäßigen Sitzes und der Ort, an dem die Unternehmensleitung zusammenkommt, herangezogen (Art. 10 Abs. 2 Unterabs. 1 MwSt-DVO). In Art. 10 Abs. 2 Unterabs. 2 MwSt-DVO ist geregelt, dass für den Fall, dass anhand dieser Kriterien der Ort des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit eines Unternehmens nicht mit Sicherheit bestimmt werden kann, der Ort zum vorrangigen Kriterium wird, an dem die wesentlichen Entscheidungen zur allgemeinen Leitung des Unternehmens getroffen werden. Zudem sieht Art. 10 Abs. 3 MwSt-DVO vor, dass allein aus dem Vorliegen einer Postanschrift nicht geschlossen werden kann, dass sich dort der Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit eines Unternehmens befindet.

65 MwSt-DVO ordnet zwar die Anwendung dieser Regelungen erst ab dem 01.07.2011 an. Bestimmungen der MwSt-DVO können aber trotzdem für Zeiträume vor ihrem Inkrafttreten zur Auslegung herangezogen werden, als sie Begriffe klarstellen, die sich bereits zuvor in der Richtlinie 77/388/EWG oder der MwStSystRL befunden haben, und dabei der Rechtsprechung des EuGH auf diesem Gebiet Rechnung tragen wollen. Dies ist für bestimmte Begriffe, die für die Festlegung der für den Ort der steuerbaren Umsätze maßgeblichen Kriterien erforderlich sind, der Fall[4].

Ist der Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit einer Gesellschaft der Ort, an dem die wesentlichen Entscheidungen zur allgemeinen Leitung dieser Gesellschaft getroffen und die Handlungen zu deren zentraler Verwaltung vorgenommen werden[5], und ist die Berücksichtigung der wirtschaftlichen Realität ein grundlegendes Kriterium für die Anwendung des gemeinsamen Mehrwertsteuersystems[6], ist eine fiktive Ansiedlung (zum Beispiel „Briefkastenfirma“ oder „Strohfirma“) nicht als Sitz einer wirtschaftlichen Tätigkeit einzustufen[7].

Bei der Bestimmung des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit einer Gesellschaft ist eine Vielzahl von Faktoren zu berücksichtigen, und zwar in erster Linie der statuarische Sitz, der Ort der zentralen Verwaltung, der Ort, an dem die Führungskräfte der Gesellschaft zusammentreffen, und der -gewöhnlich mit diesem übereinstimmende- Ort, an dem die allgemeine Unternehmenspolitik dieser Gesellschaft bestimmt wird. Andere Elemente, wie der Wohnsitz der Hauptführungskräfte, der Ort, an dem die Gesellschafterversammlung zusammentritt, der Ort, an dem die Verwaltungsunterlagen erstellt und die Bücher geführt werden, und der Ort, an dem die Finanz- und insbesondere die Bankgeschäfte hauptsächlich wahrgenommen werden, können ebenfalls in Betracht gezogen werden. Zwar kann ein und derselbe Ort gleichzeitig Sitz der wirtschaftlichen Tätigkeit und feste Niederlassung des betreffenden Unternehmens sein; der Begriff des Sitzes der wirtschaftlichen Tätigkeit hat jedoch eine vom Begriff der Niederlassung unabhängige Bedeutung[8].

Ob im Einzelfall unter Anwendung dieser Grundsätze im Inland erbrachte Leistungen vorliegen, ist grundsätzlich Tatfrage und als solche vom Finanzgericht zu beurteilen. Der Bundesfinanzhof ist grundsätzlich an diese tatsächlichen Feststellungen gebunden (§ 118 Abs. 2 FGO). Zu den der Bindung unterliegenden Feststellungen gehören auch die Schlussfolgerungen tatsächlicher Art, wenn das Finanzgericht weder gegen Denkgesetze verstoßen noch wesentliche Umstände vernachlässigt hat[9].

Die Beurteilung, von welchem Ort ein Unternehmer sein Unternehmen betreibt, oder wo -unionsrechtlich- der Sitz seiner wirtschaftlichen Tätigkeit ist, obliegt dem Finanzgericht als Tatsacheninstanz. An die tatsächliche Würdigung des Finanzgerichts ist der Bundesfinanzhof nach § 118 Abs. 2 FGO gebunden.

Ist diese tatsächliche Würdigung aufgrund der vom Finanzgericht festgestellten Tatsachen möglich und weder durch Denkfehler noch durch die Verletzung von Erfahrungssätzen beeinflusst, bindet sie daher den Bundesfinanzhof (§ 118 Abs. 2 FGO). 

Soweit die Einwendungen der Klägerin größtenteils darin bestehen, dass sie ihre abweichende Würdigung an die Stelle der Würdigung des Finanzgerichts setzt, berücksichtigt sie nicht, dass die tatsächliche Würdigung für den Bundesfinanzhof als Revisionsgericht nach § 118 Abs. 2 FGO auch dann bindend ist, wenn die Würdigung des Finanzgerichts nicht zwingend, aber möglich ist[10]. Ob die tatsächliche Würdigung des Finanzgerichts zwingend oder naheliegend ist, hat der Bundesfinanzhof insoweit nicht zu entscheiden[11].

 

Bundesfinanzhof, Beschluss vom 18. Oktober 2023 – XI R 22/20

  1. vgl. BFH, Urteile vom 19.11.1998 – V R 30/98, BFHE 187, 348, BStBl II 1999, 108, unter II. 1.b; vom 30.06.2011 – V R 37/09, BFH/NV 2011, 2129, Rz 16; BFH, Beschluss vom 14.04.2010 – V B 157/08, BFH/NV 2010, 1315, Rz 4[]
  2. EuGH, Urteil „Welmory“ vom 16.10.2014 – C-605/12, EU:C:2014:2298, Rz 53 ff.[]
  3. vgl. EuGH, Urteil Climate Corporation Emissions Trading vom 27.10.2022 – C-641/21, EU:C:2022:842, Rz 52[]
  4. EuGH, Urteil „Welmory“, EU:C:2014:2298, Rz 44 ff.; vgl. auch BFH, Beschluss vom 15.09.2021 – XI R 12/21 (XI R 25/19), BFHE 274, 317, BStBl II 2022, 417, Rz 30[]
  5. EuGH, Urteil Planzer Luxembourg vom 28.06.2007 – C-73/06, EU:C:2007:397, Tenor Ziffer 2, zur Richtlinie 79/1072/EWG[]
  6. EuGH, Urteil „Planzer Luxembourg“, EU:C:2007:397, Rz 43[]
  7. vgl. EuGH, Urteile „Planzer Luxembourg“, EU:C:2007:397, Rz 62; und „Eurofood IFSC“ vom 02.05.2006 – C-341/04, EU:C:2006:281, Rz 35, m.w.N.; BFH, Urteile vom 14.05.2008 – XI R 58/06, BFHE 221, 505, BStBl II 2008, 831, unter II. 2.b bb aaa; vom 30.06.2011 – V R 37/09, BFH/NV 2011, 2129, Rz 19[]
  8. vgl. EuGH, Urteile „Planzer Luxembourg“, EU:C:2007:397, Rz 58; und „Stoppelkamp“ vom 06.10.2011 – C-421/10, EU:C:2011:640, Rz 30 ff.; BFH, Urteile vom 14.05.2008 – XI R 58/06, BFHE 221, 505, BStBl II 2008, 831, unter II. 2.b bb aaa; vom 30.06.2011 – V R 37/09, BFH/NV 2011, 2129, Rz 18[]
  9. vgl. BFH, Urteile vom 28.02.2008 – V R 44/06, BFHE 221, 415, BStBl II 2008, 586; vom 03.07.2014 – III R 30/11, BFHE 246, 477, BStBl II 2015, 157, Rz 33, m.w.N.; vom 16.03.2022 – VIII R 24/19, BFHE 276, 127, BStBl II 2022, 450, Rz 17[]
  10. vgl. BFH, Beschluss vom 15.09.2021 – XI R 12/21 (XI R 25/19) BFHE 274, 317, BStBl II 2022, 417, Rz 47, m.w.N.[]
  11. vgl. BFH, Urteil vom 02.07.2021 – XI R 29/18, BFHE 274, 8, BStBl II 2022, 205, Rz 28, m.w.N.[]