Das DBA-Schweiz schließt den Ansatz eines Progressionsvorbehalts bei der deutschen Besteuerung für solche Einkünfte nicht aus, die nach der Verlegung des Wohnsitzes von Deutschland in die Schweiz aufgrund einer in der Schweiz ausgeübten nichtselbständigen Tätigkeit erzielt wurden.

Gemäß § 32b Abs. 1 Nr. 2, 1. Halbsatz EStG ist bei der Festsetzung der ESt u.a. dann ein besonderer Steuersatz (§ 32b Abs. 2 EStG) anzuwenden, wenn ein zeitweise unbeschränkt Steuerpflichtiger ausländische Einkünfte bezogen hat, die im Veranlagungszeitraum nicht der deutschen ESt unterlegen haben. Dies gilt gemäß § 32b Abs. 1 Nr. 2, 2. Halbsatz nur für Fälle der zeitweisen unbeschränkten Steuerpflicht einschließlich der in § 2 Abs. 7 Satz 3 geregelten Fälle. Hiernach wird also der Progressionsvorbehalt nicht nur in den Fällen des § 2 Abs. 7 Satz 3 EStG angewandt, in denen ein Steuerpflichtiger in einem Teil des Kalenderjahres unbeschränkt und in einem anderen mit inländischen Einkünften i.S.d. § 49 EStG beschränkt steuerpflichtig ist. Sie greift vielmehr auch dann ein, wenn – wie im Streitfall – in einem Teil des Kalenderjahres unbeschränkte Steuerpflicht besteht und im anderen Teil keine in Deutschland zu besteuernden Einkünfte anfallen[1].
Der Argumentation, die Voraussetzungen der Regelung des § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG seien nicht erfüllt, weil die Einkünfte der Klin, die sie in der zweiten Jahreshälfte für ihre Tätigkeit in der Schweiz bezogen habe, nicht „im Veranlagungszeitraum“ – wie es § 32b Abs. 1 Nr. 2 EStG voraussetze – erzielt worden seien, ist nicht zu folgen. Denn auch in Fällen wie dem vorliegenden ist der Veranlagungszeitraum gemäß § 25 Abs. 1 EStG das Kalenderjahr. Lediglich der Steuerermittlungszeitraum ist in solchen Fällen kürzer als das Kalenderjahr[2].
Der Anwendung des Progressionsvorbehalts steht auch nicht das DBA-Schweiz entgegen. Bei Bestehen eines DBA setzt die Anwendung des Progressionsvorbehalts nicht voraus, dass das DBA die Anwendung des Progressionsvorbehalts positiv erlaubt. Sie ist vielmehr nur dann ausgeschlossen, wenn ein einschlägiges DBA sie verbietet[3]. Ein solches Verbot enthält das DBA-Schweiz entgegen der Auffassung der Klägerseite nicht. Insbesondere ist der Regelung in Art. 4 Abs. 5 DBA-Schweiz kein solches Verbot zu entnehmen. Hiernach können dann, wenn eine natürliche Person nur für einen Teil des Jahres als im Sinne dieses Artikels in einem Vertragsstaat ansässig, für den Rest des gleichen Jahres aber als in dem anderen Vertragsstaat ansässig gilt (Wohnsitzwechsel), in jedem Staat die Steuern auf der Grundlage der unbeschränkten Steuerpflicht nur nach Maßgabe der Zeit erhoben werden, während welcher diese Person als in diesem Staat ansässig gilt. Zwar weisen die Kl zutreffend darauf hin, dass die Rechtslage, wie sie nach § 2 Abs. 7 Satz 3 EStG bis zum Veranlagungszeitraum 1995 galt und wie sie – der Sache nach – auch bereits zum Zeitpunkt des Abschlusses des DBA-Schweiz im Jahr 1971 Bestand hatte, regelte, dass dann, wenn die unbeschränkte oder beschränkte Steuerpflicht nicht jeweils während eines ganzen Kalenderjahres bestand, die Grundlagen für die Festsetzung der ESt für den Zeitraum der jeweiligen ESt-Pflicht zu ermitteln waren und sich der anzuwendende Steuersatz nur nach der Höhe des Einkommens bemaß, das der Steuerpflichtige in dem betreffenden Zeitraum erzielt hatte. Es kam mithin weder zu einer Zusammenrechnung der in den einzelnen Phasen erzielten Einkünfte noch zur Anwendung eines Progressionsvorbehalts[4]. Der Umstand, dass für Fälle wie den vorliegenden zum Zeitpunkt des Abschlusses des DBA-Schweiz nach der inländischen Gesetzeslage keine Anwendung eines Progressionsvorbehalts vorgesehen war, führt jedoch nicht dazu, dass davon auszugehen wäre, dass das DBA-Schweiz – insbesondere mit der Regelung des Art. 4 Abs. 5 – die Anwendung eines inländischen Progressionsvorbehalts ausschlösse. Angesichts des Umstands, dass zum Zeitpunkt des Abschlusses des DBA-Schweiz kein entsprechender Handlungsbedarf bestand, ist vielmehr davon auszugehen, dass durch das DBA-Schweiz kein solcher Ausschluss festgelegt werden sollte. Die Regelung in Art. 4 Abs. 5 DBA-Schweiz ist daher so zu verstehen, dass sie sich nur auf die sachliche Steuerpflicht der nach § 2 Abs. 7 Satz 3 EStG in die Bemessungsgrundlage einzubeziehenden Einkünfte bezieht. Dasselbe gilt für die Regelung in Art. 15 Abs. 1 Satz 1 DBA-Schweiz, wonach vorbehaltlich der – im Streitfall nicht einschlägigen – Regelungen der Art. 16, 18 und 19 DBA-Schweiz Gehälter, Löhne und ähnliche Vergütungen, die eine in einem Vertragsstaat ansässige Person aus unselbständiger Arbeit bezieht, nur in diesem Staat besteuert werden, es sei denn, die Arbeit wird im anderen Vertragsstaat ausgeübt[5]. Bei der Anwendung des § 32b Abs. 1 Nr. 2 und Abs. 2 Nr. 2 EStG geht es demgegenüber darum, mit welchem Steuersatz die während der Dauer der unbeschränkten Steuerpflicht (hier Januar bis Juni 2004) erzielten Einkünfte besteuert werden. Dies zu bestimmen ist ausschließlich Sache des Ansässigkeitsstaates ((FG Baden-Württemberg, Urteil vom 04.12.2007 – 12 K 19/04, EFG 2008, 592; Flick/Wassermeyer/Wingert/Kempermann, a.a.O., Art. 4 Rn. 143.2). Folglich entscheidet sich allein nach dem deutschen innerstaatlichen Steuerrecht, ob ein Progressionsvorbehalt anzuwenden ist (vgl. BFH, Urteile vom 19.12.2001 – I R 63/00, BStBl II 2003, 302; und vom 15.05.2002 – I R 40/01, BStBl II 2002, 660).
Finanzgericht Baden-Württemberg, Urteil vom 21. März 2012 – 4 K 4095/10
- BFH, Urteile vom 14.10.2003 – VIII R 111/01, BFH/NV 2004, 331; vom 19.12.2001 – I R 63/00, BStBl II 2003, 302, m.w.N.; und vom 15.05.2002 – I R 40/01, BStBl II 2002, 660[↩]
- vgl. hierzu: L. Schmidt/Weber-Grellet, EStG, Kommentar, 31. Aufl. 2012, § 2 Rn. 69 und L. Schmidt-Seeger, a.a.O., § 25 Rn. 15 m.w.N.[↩]
- BFH, Urteile vom 19.12.2001 – I R 63/00, BStBl II 2003, 302; vom 15.05.2002 – I R 40/01, BStBl II 2002, 660; und vom 14.10.2003 – VIII R 111/01, BFH/NV 2004, 331[↩]
- vgl. BFH, Urteil vom 19.12.2001 – I R 63/00, BStBl II 2003, 302[↩]
- a.A.: Mössner, IStR 1997, 225[↩]