Das Besteuerungsrecht für den Arbeitslohn eines in Deutschland wohnenden, bei einem niederländischen Arbeitgeber beschäftigten Berufskraftfahrers steht nach Art. 10 Abs. 1 DBA-Niederlande 1959 den Niederlanden zu, wenn er mit seinem Fahrzeug in den Niederlanden unterwegs gewesen ist (Grundprinzip der Besteuerung im Tätigkeitsstaat). Für Tage, an denen der Berufskraftfahrer sowohl in den Niederlanden als auch in Deutschland oder in einem Drittstaat unterwegs gewesen ist, steht das Besteuerungsrecht den Niederlanden nicht vollständig, sondern zeitanteilig zu.

Der im Inland wohnende Berufskraftfahrer ist gemäß § 1 Abs. 1 EStG mit seinen (Welt-)Einkünften unbeschränkt einkommensteuerpflichtig. Zu seinen steuerpflichtigen Einkünften gehört auch der Arbeitslohn, den er für die Tätigkeit als Berufskraftfahrer von seinem niederländischen Arbeitgeber bezogen hat (Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit, § 2 Abs. 1 Satz 1 Nr. 4 i.V.m. § 19 EStG).
Das Besteuerungsrecht an diesen Einkünften richtet sich im Verhältnis zu den Niederlanden nach Art. 10 Abs. 1 des für die Streitjahre geltenden Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich der Niederlande zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen; und vom Vermögen sowie verschiedener sonstiger Steuern und zur Regelung anderer Fragen auf steuerlichem Gebiete vom 16.06.1959[1] in der zuletzt durch Art. 4 des Dritten Zusatzprotokolls vom 04.06.2004[2] geänderten Fassung (DBA-Niederlande 1959). Die Art. 10 Abs. 1 DBA-Niederlande 1959 vorgehende sog. 183 Tage-Regelung des Abs. 2 der Bestimmung, die dem Wohnsitzstaat das ausschließliche Besteuerungsrecht am Arbeitslohn unter bestimmten Voraussetzungen unabhängig vom Ort der Arbeitsausübung zuweist, setzt nach ihrer Nr. 2 voraus, dass der Arbeitgeber des Steuerpflichtigen seinen Wohnsitz nicht in dem anderen Staat hat und ist deshalb im Streitfall nicht einschlägig. Ebenso wenig greift für den Arbeitslohn eines Berufskraftfahrers die Sonderregelung des Art. 10 Abs. 3 DBA-Niederlande 1959 für die Arbeitsausübung an Bord von Schiffen oder Luftfahrzeugen ein.
10 Abs. 1 DBA-Niederlande 1959 bestimmt für den Fall, dass eine Person mit Wohnsitz in einem der Vertragstaaten Einkünfte aus nichtselbständiger Arbeit bezieht, der andere Staat das Besteuerungsrecht für diese Einkünfte hat, wenn die Arbeit in dem anderen Staat ausgeübt wird. Demnach wird das Besteuerungsrecht des Wohnsitzstaats (Art.20 Abs. 1 Satz 1 DBA-Niederlande 1959) für den Arbeitslohn nur insoweit eingeschränkt, als er auf eine Tätigkeit entfällt, die der Steuerpflichtige in dem anderen Staat verrichtet hat. Es gilt mithin im Anwendungsbereich des Art. 10 Abs. 1 DBA-Niederlande 1959 das Grundprinzip der Besteuerung im Tätigkeitsstaat[3], welches auch Art. 15 Abs. 1 des Musterabkommens der Organisation for Economic Cooperation and Development (OECD-Musterabkommen -OECDMustAbk-) zugrunde liegt[4].
Für grenzüberschreitend tätige Berufskraftfahrer, deren Arbeitsort dort ist, wo sie sich mit den ihnen anvertrauten Fahrzeugen jeweils physisch aufhalten, folgt hieraus nach der Rechtsprechung des Bundesfinanzhofs, dass das Arbeitsentgelt aufzuteilen ist[5]; das gilt auch für den Fall, dass der Kraftfahrer an einem Arbeitstag nur stundenweise in einem Staat tätig geworden ist[6].
Diese Auffassung entspricht der Praxis der Finanzverwaltung[7] und findet einhellige Zustimmung im Schrifttum[8].
Die Auffassung, der zufolge dem Tätigkeitsstaat schon bei geringster Berührung seines Staatsgebietes durch den Berufskraftfahrer das Besteuerungsrecht für den gesamten Arbeitslohn für diesen Tag zusteht, findet in Art. 10 Abs. 1 DBA-Niederlande 1959 keine Stütze. Die Regelung stellt einzig auf die (physische) Ausübung der Arbeit in dem anderen Staat ab und bezieht sich nicht auf bestimmte, unteilbare Zeiteinheiten (Arbeitstage).
Diese Auffassung kann sich für ihre gegenteilige Sichtweise auch nicht mit Erfolg auf das Schreiben des Bundesministeriums der Finanzen vom 03.05.2018[9] berufen. Dort wird ebenfalls ein Besteuerungsrecht des Tätigkeitsstaats nur angenommen, „soweit“ der Berufskraftfahrer seine Tätigkeit dort ausübt. Dass in dem in Rz 343 des BMF-Schreibens beschriebenen Beispiel keine Aufteilung des auf einen Arbeitstag entfallenden Arbeitslohns vorgenommen wird, liegt daran, dass in dem Beispielsfall nur Arbeitstage mit ausschließlicher Arbeitsausübung in den jeweiligen Tätigkeitsstaaten zugrunde gelegt worden sind. Im Übrigen wäre der Bundesfinanzhof ohnehin nicht an die in einer Verwaltungsanweisung zum Ausdruck kommende Rechtsauffassung gebunden.
Der Umstand, dass die niederländische Steuerverwaltung die Regelung des Art. 10 Abs. 1 DBA-Niederlande 1959 offenbar anders als der Bundesfinanzhof auslegt[10] und dass im Falle des Berufskraftfahrers dessen gesamter Arbeitslohn der Streitjahre in den Niederlanden besteuert worden ist, vermag an dem gefundenen Ergebnis nichts zu ändern. Die dadurch ausgelöste Doppelbesteuerung könnte ggf. im Rahmen eines Verständigungsverfahrens (Art. 22 DBA-Niederlande 1959) beseitigt werden.
Bei der sonach erforderlichen Aufteilung des Arbeitslohns anhand der jeweils in den Niederlanden ausgeübten Arbeitszeit hat das Finanzgericht Düsseldorf in der Vorinstanz zu Recht nicht beanstandet, dass das Finanzamt im Schätzungswege gemäß § 162 der Abgabenordnung von einer jeweils hälftigen Teilung je Arbeitstag mit Fahrten sowohl in den Niederlanden als auch im Inland bzw. in einem Drittstaat ausgegangen ist[11].
Im Verhältnis zu Belgien, Frankreich oder der Schweiz, in deren Territorien der Berufskraftfahrer ebenfalls seine Tätigkeit als Berufskraftfahrer ausgeübt hat, ist das deutsche Besteuerungsrecht am Arbeitslohn nicht eingeschränkt. Alle mit diesen Staaten abgeschlossenen, für die Streitjahre anwendbaren Abkommen zur Vermeidung der Doppelbesteuerung enthalten sog. 183 Tage-Regelungen nach dem Vorbild des Art. 15 Abs. 2 OECDMustAbk, denen zufolge unabhängig vom Ort der Arbeitsausübung dem Ansässigkeitsstaat das alleinige Besteuerungsrecht an Arbeitsentgelten zusteht, wenn sich der Empfänger in dem anderen Staat (Tätigkeitsstaat) nicht länger als 183 Tage im betreffenden Kalenderjahr (Belgien, Schweiz) bzw. Steuerjahr (Frankreich) aufhält, soweit nicht der Arbeitgeber in dem Tätigkeitsstaat ansässig ist oder die Vergütungen von einer dort belegenen Betriebsstätte oder festen Einrichtung getragen werden ((vgl. Art. 15 Abs. 2 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Königreich Belgien zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und zur Regelung verschiedener anderer Fragen auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen; und vom Vermögen einschließlich der Gewerbesteuer und der Grundsteuern vom 11.04.1967 [BGBl II 1969, 18, BStBl I 1969, 39] i.d.F. des Zusatzabkommens vom 05.11.2002 [BGBl II 2003, 1616, BStBl I 2005, 347]; Art. 13 Abs. 4 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik zur Vermeidung der Doppelbesteuerungen und über gegenseitige Amts- und Rechtshilfe auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen; und vom Vermögen sowie der Gewerbesteuern und der Grundsteuern vom 21.07.1959 [BGBl II 1961, 398, BStBl I 1961, 343] i.d.F. des Zusatzabkommens vom 20.12.2001 [BGBl II 2002, 2372, BStBl I 2002, 892]; Art. 15 Abs. 2 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Schweizerischen Eidgenossenschaft zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiete der Steuern vom Einkommen; und vom Vermögen vom 11.08.1971 [BGBl II 1972, 1022, BStBl I 1972, 519] i.d.F. des Änderungsprotokolls vom 27.10.2010 [BGBl II 2011, 1092, BStBl I 2012, 513]).
Anhand der Feststellungen der Vorinstanz besteht kein Anhalt dafür, dass die Voraussetzungen der sog. 183 Tage-Regelungen im Streitfall in Bezug auf Belgien, Frankreich oder der Schweiz vorgelegen haben könnten.
Bundesfinanzhof, Beschluss vom 1. Juni 2022 – I R 45/18
- BGBl II 1960, 1782, BStBl I 1960, 382[↩]
- BGBl II 2004, 1655, BStBl I 2005, 365[↩]
- Mick in Wassermeyer Niederlande Art. 10 Rz 7 [Stand: Juli 2009][↩]
- vgl. hierzu Wassermeyer/Schwenke in Wassermeyer MA Art. 15 Rz 4; Prokisch in Vogel/Lehner, DBA, 7. Aufl., Art. 15 Rz 19b[↩]
- vgl. BFH, Urteile vom 29.01.1986 – I R 22/85, BFHE 146, 132, BStBl II 1986, 479 -zum DBA-Italien-; vom 31.03.2004 – I R 88/03, BFHE 206, 64, BStBl II 2004, 936 -zum DBA-Luxemburg-; BFH, Beschluss vom 22.01.2002 – I B 79/01, BFH/NV 2002, 902 -zum DBA-Dänemark-[↩]
- BFH, Urteil in BFHE 146, 132, BStBl II 1986, 479; vgl. auch BFH, Urteil vom 25.11.2014 – I R 27/13, BFHE 248, 153, BStBl II 2015, 448 zur grenzüberschreitenden Arbeitsausübung eines Auslandskorrespondenten[↩]
- vgl. z.B. § 7 Abs. 2 der Verordnung zur Umsetzung von Konsultationsvereinbarungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und dem Großherzogtum Luxemburg vom 09.07.2012, BGBl I 2012, 1484, BStBl I 2012, 693, wo allerdings unabhängig von der tatsächlichen Verweildauer eine hälftige Aufteilung je Arbeitstag vorgesehen ist[↩]
- vgl. Mick in Wassermeyer Niederlande Art. 10 Rz 23 [Stand: Juli 2009]; Wassermeyer/Schwenke in Wassermeyer MA Art. 15 Rz 146; Prokisch in Vogel/Lehner, a.a.O., Art. 15 Rz 129; Büscher/Kamphaus in Strunk/Kaminski/Köhler, AStG/DBA, Art. 15 OECD-MustAbk Rz 80; Reinhold in Gosch/Kroppen/Grotherr/Kraft, DBA, Art. 15 OECD-MustAbk Rz 107; Schmidt in Haase, AStG/DBA, 3. Aufl., Art. 15 MA Rz 101; Holthaus, Internationales Steuerrecht -IStR- 2006, 16 f.; W. Wassermeyer, IStR 2001, 470 f.[↩]
- BStBl I 2018, 643, Rz 332 ff. -„Besonderheiten bei Berufskraftfahrern“-[↩]
- vgl. Wüllenkemper, EFG 2019, 54[↩]
- FG Düsseldorf, Urteil vom 13.11.2018 – 10 K 2203/16 E, EFG 2019, 52[↩]