Die nach dem Wegzug eingetretene Wertminderung der Anteile im Zuzugsstaat

Eine Korrektur der Veranlagung des Wegzugsjahres (unter Neuberechnung des fiktiven Veräußerungsgewinns im Wegzugszeitpunkt), weil die nach dem Wegzug eingetretene Wertminderung der Anteile „bei der Einkommensbesteuerung durch den Zuzugsstaat nicht berücksichtigt“ wurde, setzt nicht voraus, dass der dort nicht zur Abgabe einer Steuererklärung verpflichtete Steuerpflichtige die Berücksichtigung der Wertminderung im Zuzugsstaat erfolglos beantragt hat. Der Steuerpflichtige trägt nicht die Feststellungslast für die Nichtberücksichtigung der Wertminderung im Zuzugsstaat.

Die nach dem Wegzug eingetretene Wertminderung der Anteile im Zuzugsstaat

Ist bei einer Veräußerung der Beteiligung der Veräußerungsgewinn im Sinne des § 17 Abs. 2 EStG im Zeitpunkt der Beendigung der Stundung niedriger als der Vermögenszuwachs nach § 6 Abs. 1 AStG und wird die Wertminderung bei der Einkommensbesteuerung durch den Zuzugsstaat nicht berücksichtigt, ist der Steuerbescheid insoweit aufzuheben oder zu ändern; § 175 Abs. 1 Satz 2 AO gilt entsprechend (§ 6 Abs. 6 Satz 1 AStG). Auch insoweit besteht zwischen den Beteiligten kein Dissens darüber, dass das Eingreifen dieser Änderungsnorm im Streitfall allein davon abhängt, ob die unstreitig eingetretene Wertminderung als Differenz zwischen dem Vermögenszuwachs im Sinne des § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG und dem tatsächlich realisierten Veräußerungsgewinn im Sinne des § 17 Abs. 2 EStG[1] „bei der Einkommensbesteuerung durch den Zuzugsstaat nicht berücksichtigt“ wurde.

Diese tatbestandliche Anforderung ist dahin zu verstehen, dass es auf die konkrete Berücksichtigung der Wertminderung im Rahmen des durch eine Finanzbehörde des Zuzugsstaats durchgeführten Besteuerungsverfahrens ankommt, zum Beispiel in einem Einkommensteuerbescheid, einem dem § 10d Abs. 4 EStG vergleichbaren Verlustfeststellungsbescheid oder sonst im Rahmen einer Steuerveranlagung. Ist es zu einer solchen Berücksichtigung nicht gekommen, insbesondere weil der Zuzugsstaat den Veräußerungsvorgang generell oder im Einzelfall nicht besteuert oder bei der Besteuerung auf die historischen Anschaffungskosten und nicht auf den Wert zurückgreift, den der Wegzugsstaat im Rahmen der Wegzugsbesteuerung angesetzt hat (vgl. Art. 13 Abs. 6 des Abkommens zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Republik Österreich zur Vermeidung der Doppelbesteuerung auf dem Gebiet der Steuern vom Einkommen; und vom Vermögen vom 24.08.2000[2]; § 17 Abs. 2 Satz 3 EStG), ist das Eingreifen der Korrekturnorm des § 6 Abs. 6 Satz 1 AStG nicht weitergehend davon abhängig, dass der Steuerpflichtige eine Steuererklärung eigens zu dem Zweck abgegeben hat, eine Entscheidung der ausländischen Steuerbehörde über die Frage der Berücksichtigung der Wertminderung herbeizuführen.

Dass das ausländische Steuerrecht in seinen abstrakt-generellen Normen eine Berücksichtigung der Wertminderung bei der Einkommensbesteuerung vorsieht, genügt entgegen der Rechtsauffassung des Finanzamtes nicht. Vielmehr deutet schon der Wortlaut der Norm auf ein konkretes (Nicht-)Berücksichtigungserfordernis hin. Denn typischerweise wird das materielle Steuerrecht durch Verwaltungsakte umgesetzt; daher kann erst in Folge einer solchen Umsetzung von einer Berücksichtigung beziehungsweise Nichtberücksichtigung der Wertminderung bei der Einkommensbesteuerung gesprochen werden.

Zwar ist der Wortlaut des § 6 Abs. 5 Satz 1 AStG insoweit nicht eindeutig und es könnten bestimmte Formulierungen in der Begründung des Gesetzentwurfs (z.B. „nach den gesetzlichen Vorschriften des Zuzugsstaats“)[3] auch für ein abstraktes Berücksichtigungserfordernis sprechen. Jedoch ist ein etwaiger Wille des historischen Gesetzgebers nicht hinreichend klar im Gesetzeswortlaut („bei der Einkommensbesteuerung“) zum Ausdruck gekommen. Denn in der gesetzlichen Rechtsfolgeanordnung heißt es, dass der Steuerbescheid „insoweit aufzuheben oder zu ändern“ ist, wobei das „insoweit“ es insbesondere ermöglicht, die Änderung der inländischen Wegzugsteuer an den Umfang der Berücksichtigung beziehungsweise Nichtberücksichtigung der Wertminderung im Zuzugsstaat anzupassen[4]. Eine solche Anpassung hängt aber regelmäßig davon ab, wie die ausländische Finanzbehörde die für sie zu beachtenden Rechtsvorschriften konkret angewendet und den Verlustbetrag ermittelt hat. Dies lässt sich aber typischerweise nur auf der Grundlage des konkret erlassenen ausländischen Steuerverwaltungsakts oder einer vergleichbaren behördlichen Willensäußerung bestimmen.

Dass es auf die konkrete Einkommensbesteuerung im Zuzugsstaat ankommt, lässt sich auch daraus ableiten, dass in der Begründung des Gesetzentwurfs ausgeführt wird, die Feststellungslast für die Nichtberücksichtigung der Wertminderung im Zuzugsstaat habe der Steuerpflichtige zu tragen. Denn die Feststellung des -abstrakt-generellen- Inhalts des EU-ausländischen Rechts ist an sich nicht mit besonderen Schwierigkeiten verbunden, die zu einer Entscheidung nach den Grundsätzen der Feststellungslast führen könnte. Dabei sind Finanzgerichte verpflichtet und auch in der Lage, den Inhalt des -entscheidungserheblichen- ausländischen Rechts, gegebenenfalls unter Hinzuziehung eines Sachverständigen, selbst festzustellen (§ 155 Satz 1 FGO i.V.m. § 293 ZPO)[5]. Fragen der Feststellungslast können sich in diesem Zusammenhang typischerweise nicht stellen, während die Feststellung, ob und gegebenenfalls wie ausländische Finanzbehörden den Inhalt des ausländischen Rechts konkretisiert haben, bei Bedarf auf der Grundlage einer „Beweislastentscheidung“ getroffen werden muss.

Allerdings muss die Nichtberücksichtigung der Wertminderung im Zuzugsstaat nicht auf einer (finanz-)behördlichen Entscheidung beruhen.

Dem Wortlaut des § 6 Abs. 6 Satz 1 AStG ist nicht zu entnehmen, dass die Anwendung der Korrekturnorm von der Abgabe einer Steuererklärung im Ausland abhängt; der Steuerpflichtige muss auch nicht in anderer Weise darauf hinwirken, dass die Behörden des Zuzugsstaats über die Berücksichtigung der Wertminderung eine (positive oder negative) Entscheidung treffen. Vielmehr verhält sich das Gesetz zu den Gründen für die Nichtberücksichtigung der Wertminderung im Zuzugsstaat grundsätzlich neutral[6]. Nach dem Wortlaut spielt es auch keine Rolle, ob die Nichtberücksichtigung in Kenntnis der ausländischen Finanzbehörde von der Wertminderung erfolgte oder nicht. Einen davon abweichenden Gesetzesbefehl hätte der Gesetzgeber ohne Weiteres erteilen können, wenn er die Formulierung „berücksichtigt werden kann“ beziehungsweise „könnte“ gewählt hätte[7].

Eine „Erklärungspflicht“ als Voraussetzung kann auch nicht daraus hergeleitet werden, dass den Steuerpflichtigen die Feststellungslast für die Nichtberücksichtigung der Wertminderung im Zuzugsstaat träfe. Wäre der Steuerpflichtige nachweispflichtig und feststellungsbelastet, käme dies zwar einem faktischen Erklärungszwang gleich. Jedoch hat die aus den Gesetzesmaterialien erkennbare Auffassung, den Steuerpflichtigen treffe die Feststellungslast[8], gerade keinen Eingang in den Gesetzestext gefunden. Die systematische Zusammenschau mit § 6 Abs. 6 Satz 2 und Abs. 7 AStG zeigt auch auf, dass dem Gesetzgeber Fragen des Nachweises und der Feststellungslast deutlich vor Augen standen, er aber im Rahmen des § 6 Abs. 6 Satz 1 AStG von vergleichbaren Regelungen abgesehen hat[9].

Entgegen der Auffassung des Finanzgerichts Nürnberg[10] kann ein vom Wortlaut abweichendes Gesetzesverständnis auch nicht aus dem vermeintlichen Ausnahmecharakter des § 6 Abs. 6 Satz 1 AStG hergeleitet werden. Denn die Berücksichtigung einer zwischenzeitlich eingetretenen Wertminderung, die von § 6 Abs. 6 Satz 1 AStG ermöglicht wird, führt lediglich zum steuerlichen „Normalfall“ zurück, in dem sich der Besteuerungszugriff auf den tatsächlich realisierten Vermögenszuwachs als Indikator steuerlicher Leistungsfähigkeit beschränkt, was zugleich den Belastungsgrund der Wegzugsteuer des § 6 Abs. 1 Satz 1 AStG sachgerecht ausfüllt.

Der Bundesfinanzhof kann sich auch nicht der Meinung des Finanzgerichts Nürnberg anschließen, dem Steuerpflichtigen müsse verwehrt bleiben, die Wertminderung wahlweise im Wegzugs- oder Zuzugsstaat geltend zu machen. Im Anwendungsbereich des § 6 Abs. 6 AStG unterliegt der Steuerpflichtige im EU-Zuzugsstaat einer der deutschen unbeschränkten Einkommensteuerpflicht vergleichbaren Steuerpflicht (vgl. § 6 Abs. 5 Satz 1 AStG). Damit gehen typischerweise Pflichten zur Abgabe vollständiger und wahrheitsgemäßer Steuererklärungen einher, die es den ausländischen Finanzbehörden regelmäßig ermöglichen dürften, die Veräußerung von Kapitalgesellschaftsanteilen zu erkennen und den Vorgang unter Berücksichtigung der darüber hinaus -weltweit- erzielten Einkünfte zu besteuern. Der Streitfall ist demgegenüber atypisch gelagert, weil der GmbH-Gesellschafter und seine Ehefrau und sodann Erbin nach ihrem Umzug nach Österreich aus diversen Gründen – hohes Lebensalter, der Besteuerung des Wegzugsstaats unterliegende Rentenbezüge, Fehlen weiterer Einkunftsquellen und Ähnliches – dort „nichts zu versteuern“ hatten und deshalb nicht erklärungspflichtig waren. An dieser atypischen Konstellation ist die Auslegung des § 6 Abs. 6 Satz 1 AStG jedoch nicht auszurichten, zumal die Nichtberücksichtigung einer Wertminderung im Zuzugsstaat durch das Unterlassen der Abgabe einer vom Zuzugsstaat nicht geforderten Steuererklärung nicht mit der Ausübung eines Wahlrechts gleichgesetzt werden kann. Ob und inwieweit eine Wertminderung im Rahmen des § 6 Abs. 6 Satz 1 AStG auch dann berücksichtigt werden kann, wenn der Steuerpflichtige bewusst gegen eine im Zuzugsstaat bestehende Erklärungspflicht verstößt, muss im Streitfall nicht entschieden werden.

Bundesfinanzhof, Urteil vom 26. Juli 2023 – I R 39/20

  1. siehe allgemein Müller-Gosoge in Haase, Außensteuergesetz/Doppelbesteuerungsabkommen, 3. Aufl., § 6 AStG Rz 234[]
  2. BGBl II 2002, 735, BStBl I 2002, 585, in der Fassung des Änderungsprotokolls vom 29.12.2010, BGBl II 2011, 1210, BStBl I 2012, 367[]
  3. vgl. BT-Drs. 16/2710, S. 54[]
  4. z.B. Häck in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, Außensteuerrecht, Altkommentierung zu § 6 AStG Rz 633; Brandis/Heuermann/Pohl, § 6 AStG a.F. Rz 97; Müller-Gosoge in Haase, Außensteuergesetz/Doppelbesteuerungsabkommen, 3. Aufl., § 6 AStG Rz 237; Wilke in AStG-eKommentar, Stand 28.03.2019, § 6 Rz 101[]
  5. z.B. BFH, Urteil vom 13.06.2013 – III R 10/11, BFHE 241, 562, BStBl II 2014, 706[]
  6. Häck, Internationale Steuer-Rundschau -ISR- 2021, 55, 56 f.; Häck in Hummel/Kaminski, Neue Herausforderungen im Internationalen Steuerrecht, 2022, 1, 8 f.[]
  7. zutreffend Häck, ISR 2021, 55, 56[]
  8. BT-Drs. 16/2710, S. 54[]
  9. gleicher Auffassung Häck in Flick/Wassermeyer/Baumhoff/Schönfeld, Außensteuerrecht, Altkommentierung zu § 6 AStG Rz 635; Häck, ISR 2021, 55, 56; Müller-Gosoge in Haase, Außensteuergesetz/Doppelbesteuerungsabkommen, 3. Aufl., § 6 AStG Rz 238; a.A. Cloer, Deutsches Steuerrecht kurzgefasst 2021, 29[]
  10. FG Münster, Urteil vom 17.09.2020 – 5 K 3356/17 E[]