Steuermaßnahmen als unzulässige staatliche Beihilfen in Gibraltar

Nach Ansicht von des Generalanwalt beim Gerichtshof der Europäischen Union können schädliche Steuermaßnahmen nicht automatisch als unzulässige staatliche Beihilfen eingestuft werden. Der Generalanwalt schlägt vor, die Nichtigerklärung der Entscheidung der Kommission, wonach der Vorschlag für die Reform der Körperschaftsteuer in Gibraltar aus dem Jahr 2002 eine unzulässige staatliche Beihilfe darstellt, zu bestätigen.

Steuermaßnahmen als unzulässige staatliche Beihilfen in Gibraltar

Im August 2002 meldete das Vereinigte Königreich bei der Europäischen Kommission die beabsichtigte Körperschaftsteuerreform des Government of Gibraltar an. Diese Reform umfasste insbesondere die Aufhebung des alten Steuersystems und die Einführung von drei Steuern, die für alle Unternehmen in Gibraltar gelten sollten: eine Eintragungsgebühr, eine Lohnsummensteuer und eine Gewerbegrundbenutzungssteuer, wobei für die beiden letztgenannten Steuern eine Höchstgrenze von 15 % der Gewinne anwendbar war. Diese angemeldete Reform ist in dieser Form jedoch nicht in Kraft getreten, es wurde vielmehr – auch im Hinblick auf die Bedenken der Europoäischen Kommission – ein neues Körperschaftsteuersystem erlassen.

Die Kommission entschied im Jahr 2004[1], dass die angemeldeten Vorschläge zur Reform des Körperschaftsteuersystems in Gibraltar eine Beihilferegelung darstellten, die mit dem Gemeinsamen Markt unvereinbar sei, und dass diese Vorschläge daher nicht umgesetzt werden dürften.

In ihrer Entscheidung nahm die Kommission eine regionale Selektivität der beabsichtigten Reform an, da diese ein System einführe, nach dem Unternehmen in Gibraltar allgemein niedriger besteuert würden als Unternehmen im Vereinigten Königreich. Außerdem betrachtete sie die Steuerreform in materieller Hinsicht als selektiv. Das geplante Steuersystem sei nämlich durch eine systemimmanente Diskriminierung gekennzeichnet sei, da seine Struktur dazu führe, dass Offshore-Unternehmen in Gibraltar nicht besteuert würden.

Aufgrund der vom Government of Gibraltar und vom Vereinigten Königreich erhobenen Klagen erklärte das Gericht erster Instanz am 18. Dezember 2008 die Entscheidung der Kommission für nichtig[2]. Das Gericht erster Instanz (heute: Gericht der Europäischen Union) stellte in seinem Urteil fest, dass der Bezugsrahmen für die Beurteilung der regionalen Selektivität der Reform ausschließlich die Grenzen des Hoheitsgebiets von Gibraltar und nicht die des Vereinigten Königreichs seien. Hinsichtlich der materiellen Selektivität der Maßnahme vertrat das Gericht die Ansicht, dass die Kommission keine korrekte Prüfungsmethode angewandt habe. Die Europäische Kommission und das Königreich Spanien legten beim Gerichtshof der Europäischen Union Rechtsmittel ein, mit denen sie die Aufhebung des Urteils des Gerichts begehren.

In seinen heutigen Schlussanträgen schlägt der Generalanwalt dem Gerichtshof der Europäischen Union vor, die beiden Rechtsmittel zurückzuweisen.

Was die territoriale Selektivität der beabsichtigen Reform des Government of Gibraltar betrifft, bestätigt der Generalanwalt die Schlussfolgerung des Gerichts, wonach das Hoheitsgebiet von Gibraltar der für die Beurteilung der Selektivität der beabsichtigten Steuerreform maßgebliche territoriale Bezugsrahmen ist.

Was die materielle Selektivität der beabsichtigen Maßnahme des Government of Gibraltar betrifft, dürfen die Vorschriften über staatlichen Beihilfen nach Ansicht des Generalanwalts nicht zweckentfremdet und so zur Bekämpfung des schädlichen Steuerwettbewerbs zwischen den Mitgliedstaaten verwendet werden. Die Maßnahmen zur Bekämpfung dieses Phänomens fallen in der Union nämlich in den Bereich der direkten Besteuerung. Insoweit weist der Generalanwalt darauf hin, dass mit den unionsrechtlichen Vorschriften über staatliche Beihilfen nur denjenigen Wettbewerbsverzerrungen entgegengewirkt werden soll, die auf dem Willen eines Mitgliedstaats beruhen, in Abweichung von seinen allgemeinen politischen Zielvorstellungen bestimmten Unternehmen oder Produktionszweigen einen besonderen Vorteil zuzuwenden. Wenn eine Steuermaßnahme hingegen allgemeinen Charakter hat, stellt sie eine Ausgestaltung der allgemeinen Steuerpolitik und keine staatliche Beihilfe dar. Derselbe Grundsatz gilt für den schädlichen Steuerwettbewerb zwischen den Mitgliedstaaten der Union, der folglich nicht automatisch unter den Kontrollmechanismus der staatlichen Beihilfen fällt. Bei den schädlichen Steuermaßnahmen handelt es sich zu einem erheblichen Teil um allgemeine Steuermaßnahmen, auf die folglich die unionsrechtlichen Vorschriften über staatliche Beihilfen nicht anwendbar sind.

Sodann stellt Generalanwalt Jääskinen fest, dass das Gericht erster Instanz den innovativen Ansatz der Kommission, wonach jedes durch eine „systemimmanente Diskriminierung“ gekennzeichnete Steuersystem als staatliche Beihilfe einzustufen sei, zu Recht zurückgewiesen hat.

Zu dieser Frage weist der Generalanwalt darauf hin, dass für die Feststellung, ob eine nationale Steuermaßnahme tatsächlich eine staatliche Beihilfe darstellt, geprüft werden muss, ob die fragliche Maßnahme für die Begünstigten zu einem selektiven Vorteil führt. Die Kommission hat in ihrer Entscheidung zur Steuerreform Gibraltars seiner Meinung nach keine allgemeine oder „normale“ Steuerregelung identifiziert, gegenüber der bestimmte Teile des Steuersystems Gibraltars eine Ausnahme darstellen und damit a priori selektiv sind. Stattdessen hat die Kommission in Befolgung eines neuen Ansatzes – die Europäische Kommission hat nämlich nicht die in ihrer Mitteilung über die Anwendung der Vorschriften über staatliche Beihilfen auf Maßnahmen im Bereich der direkten Unternehmenssteuerung[3] dargelegte Ausnahmemethode befolgt – in ihrer Entscheidung die Ansicht vertreten, dass das Steuersystem Gibraltars strukturbedingt durch eine Auswahl der im angeblich „normalen“ Steuersystem anzuwendenden Kriterien einer Gruppe von Unternehmen einen Vorteil verschafft habe. Daher hat sie festgestellt, dass das Steuersystem Gibraltars insgesamt durch eine „systemimmanente Diskriminierung“ gekennzeichnet sei, was nach ihrer Auffassung gleichbedeutend mit dem Vorliegen eines selektiven Vorteils und folglich einer staatlichen Beihilfe war.

Dieser innovative Ansatz der Kommission setzt nach Auffassung des Generalanwalts voraus, dass das Vorhandensein eines selektiven Vorteils nicht mehr anhand eines Vergleichs zwischen der im konkreten Fall geprüften nationalen Steuermaßnahme und der normalerweise anwendbaren nationalen Steuerregelung beurteilt wird, sondern anhand eines Vergleichs zwischen der nationalen Steuerregelung, wie sie insgesamt vorliegt, und einem anderen Steuersystem, das hypothetisch und nicht existent ist. Ein solcher Ansatz erfordert seines Erachtens die Schaffung eines Bezugssteuersystem für die Europäische Union, um die diskriminierenden Auswirkungen beurteilen zu können, die die im Bereich der Unternehmensbesteuerung hinsichtlich der Besteuerungsgrundlage (oder hinsichtlich des Steuersatzes) von den Mitgliedstaaten getroffenen Entscheidungen haben sollen. Hierzu stellt Generalanwalt Jääskinen fest, dass ein solches gemeinsames Bezugssystem nicht existiert und dass die Anwendung der unionsrechtlichen Vorschriften über staatliche Beihilfen nicht de facto zum Erlass einer solchen Steuerharmonisierungsmaßnahme führen kann.

Diese Schlussanträge des Generalanwalts sind für den Gerichtshof der Europäischen Union nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten. Die Richter des Gerichtshofs treten nunmehr in die Beratung ein. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.

Gerichtshof der Europäischen Union, Schlussanträge des Generalanwalts vom 7. April 2011 in den verbundenen Rechtssachen C-106/09 P und C-107/09 P [
Europäische Kommission und Spanien/Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich]

  1. Europäische Kommission, Entscheidung 2005/261/EG vom 30.03.2004 über die Beihilferegelung, die das Vereinigte Königreich im Rahmen der Körperschaftsteuerreform des Government of Gibraltar beabsichtigt, ABl. 2005, L 85, S. 1.[]
  2. EuG, Urteil vom 18.12.2008 – T-211/04 und T-215/04 [Government of Gibraltar und Vereinigtes Königreich Großbritannien und Nordirland/Kommission][]
  3. ABl. 1998, C 384, S. 3[]