In dem vor dem Gerichtshof der Europäischen Union anhängigen Rechtsstreit um die von der Europäischen Union im Zusammenhang mit den Präsidentschaftswahlen in der Elfenbeinküste verhängten Sanktionen hat jetzt der Generalanwalt beim Gerichtshof der Europäischen Union seine Schlussanträge vorgelegt.

Darin schlägt der Generalanwalt dem Gerichtshof der Europäischen Union vor, die erstinstanzlichen Beschlüsse des Gerichts der Europäischen Union aufzuheben, mit denen die Klagen von Herrn Gbagbo, den vorgeblichen Präsidenten der Elfenbeinküste, und einigen seiner Anhänger als unzulässig abgewiesen wurden. Der Generalanwalt schlägt vor, die Rechtssachen an das Gericht der Europäischen Union zurückzuverweisen, damit es über die Zulässigkeit der Klagen nach Anhörung der Parteien entscheidet.
Im Herbst 2010 fanden in Côte d’Ivoire Präsidentschaftswahlen statt, aus denen nach den Feststellungen der UNO Herr Alassane Ouattara als Sieger hervorging. In diesem Zusammenhang erließ der Rat der Europäischen Union eine Reihe von Rechtsakten[1] gegen Personen, die den erfolgreichen Abschluss des Wahlprozesses gefährdeten. So wurde diesen Personen verboten, in die Mitgliedstaaten einzureisen oder durchzureisen. Außerdem wurden ihre sämtlichen wirtschaftlichen Ressourcen in der Europäischen Union eingefroren.
Zu den Adressaten dieser Maßnahmen gehörten, jeweils mit den folgenden Präzisierungen:
- D. Laurent Gbagbo („Vorgeblich Präsident der Republik“),
- Pascal Affi N’Guessan („Generalsekretär des Front Populaire Ivoirien (FPI), ehemaliger Premierminister. Radikale Stellungnahmen und gezielte Verbreitung von Falschinformationen. Ruft zu Gewalt auf“),
- Koné Katina Justin („Vorgeblich delegierter Minister für den Haushalt. Mitglied der unrechtmäßigen Regierung von Laurent Gbagbo“) und
- Danièle Boni Claverie („Besitzt die französische und ivorische Staatsangehörigkeit. Vorgeblich Ministerin für Frauen, Familien und Kinder. Mitglied der unrechtmäßigen Regierung von Laurent Gbagbo“).
Diese Maßnahmen wurden den Betroffenen durch Veröffentlichung einer Bekanntmachung im Amtsblatt der Europäischen Union mitgeteilt.
Im Juli 2011 erhoben diese Personen beim Gericht der Europäischen Union Nichtigkeitsklagen gegen die sie betreffenden Bestimmungen. Das Gericht der Europäischen Union wies die Klagen von vornherein, allein anhand der Klageschriften, durch Beschluss als unzulässig ab, da sie offensichtlich verspätet (je nach Einzelfall zwischen drei Monaten und sechs Tagen) erhoben worden seien[2].
Die Betroffenen legten daraufhin im September 2011 beim Gerichtshof der Europäischen Union Rechtsmittel gegen die Beschlüsse des erstinstanzlichen Gerichts der Europäischen Union ein. Zum einen machen sie geltend, das Europäische Gericht habe nicht berücksichtigt, dass der Kriegszustand, in dem sich Côte d’Ivoire angeblich befunden habe, einen Fall höherer Gewalt dargestellt habe, durch den sie daran gehindert gewesen seien, wirksam ihr Recht auf einen Rechtsbehelf auszuüben. Zum anderen machen sie geltend, es lasse sich nicht anhand des Grundsatzes der Rechtssicherheit rechtfertigen, dass einerseits den Klagen die lediglich um die Entfernungsfrist erweiterte allgemeine Klagefrist entgegengehalten worden sei und andererseits die streitigen Rechtsakte ihnen nicht persönlich mitgeteilt worden seien.
In seinen jetzt vorgelegten Schlussanträgen unterstreicht der Generalanwalt, dass den speziellen Umständen des Falls, was die Beeinträchtigung der durch das Unionsrecht gewährleisteten Rechte und Garantien angehe, besondere Beachtung geschenkt werden müsse. Dies gelte für den Ausnahmecharakter der vom Rat ergriffenen Maßnahmen (Einschränkungen der Rechte und Freiheiten der Betroffenen), das Verfahren zu ihrem Erlass (weder Anhörung noch Möglichkeit der Verteidigung), die Tatsache, dass die Klage zum Gericht das einzige den Betroffenen zur Verfügung stehende Verteidigungsmittel sei (eine eindeutige Ausnahme von der für einen Rechtsstaat charakteristischen allgemeinen Regelung von Garantien), und die Unmöglichkeit einer persönlichen Mitteilung der Maßnahmen an die Betroffenen, die sich darüber hinaus außerhalb des Gebiets der Union und in einer Situation befunden hätten, die der Rat als chaotisch beschrieben habe.
So ergibt sich seiner Auffassung nach aus der Logik des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz, dass die vom Rat erlassenen Maßnahmen den Betroffenen ungeachtet jeglicher formeller Erwägungen auf direktem Weg persönlich hätten mitgeteilt werden müssen. Allerdings räumt er ein, dass es in Situationen wie denen des vorliegenden Falls sehr wahrscheinlich sei, dass eine persönliche Mitteilung nicht möglich sei und dass infolgedessen die Notwendigkeit bestehe, auf andere Kommunikationsweisen wie die im Amtsblatt der Union erfolgte Veröffentlichung einer Bekanntmachung zurückzugreifen. In jedem Fall sei die Union verpflichtet, aktiv dafür zu sorgen, dass die Betroffenen Kenntnis von den erlassenen Maßnahmen erlangten.
Zur Berechnung der Frist für die Erhebung der Klagen weist der Generalanwalt darauf hin, dass diese binnen zwei Monaten zu erheben seien und dass diese Frist je nach Lage des Falles von der Bekanntgabe der betreffenden Handlung, ihrer Mitteilung an den Kläger oder in Ermangelung dessen von dem Zeitpunkt an, zu dem der Kläger von dieser Handlung Kenntnis erlangt habe, laufe (Art. 263 AEUV). Hieraus folgert er, dass zwar grundsätzlich nicht infrage gestellt werden könne, dass prozessuale Fristen zu Gunsten des Grundsatzes der Rechtssicherheit eng auszulegen seien. Dieser Grundsatz werde jedoch auch im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union nicht bis zu seiner letzten Konsequenz geführt. Vielmehr lasse der AEU-Vertrag, wenn er gegebenenfalls auf die Bedeutung der tatsächlichen Kenntnis abstelle, auch zu, dass bei der Berechnung der Fristen auf die besonderen Umstände des Einzelfalls abgestellt werde.
Daher hätten den Herren Gbagbo, Koné, Djédjé und N’Guessan sowie Frau Boni Claverie nach Auffassung des Generalanwalts sämtliche Möglichkeiten zugestanden werden müssen, um geltend machen zu können, dass sie aus Gründen höherer Gewalt erst zu einem nach der Veröffentlichung der getroffenen Maßnahmen liegenden Zeitpunkt tatsächlich Kenntnis von diesen erlangt hätten, mit den sich daraus gegebenenfalls ergebenden Folgen für die Rechtzeitigkeit ihrer Klagen. Seiner Ansicht nach hätten dem Gericht dafür prozessuale Mittel zur Verfügung gestanden. Dieses habe sich angesichts einer vermeintlich verspäteten Erhebung der Klagen für den − Klagen, deren Unzulässigkeit offensichtlich sei und daher ohne eine diesbezügliche Stellungnahme der Parteien festgestellt werden könne, vorbehaltenen – prozessualen Weg entschieden. Angesichts der besonderen Umstände des Falls sei es jedoch zweifelhaft, ob die Unzulässigkeit der Klagen als offensichtlich habe angesehen werden können. Daher hätte das Gericht von seiner Befugnis Gebrauch machen müssen, jederzeit von Amts wegen nach Anhörung der Parteien über die Unzulässigkeit der Klagen zu entscheiden. Eine solche Anhörung hätte es ermöglicht, gegebenenfalls die Unzulässigkeit nach Durchführung eines ordnungsgemäßen Verfahrens festzustellen. In einem Fall wie dem vorliegenden, in dem die Betroffenen die Auswirkungen von Maßnahmen zu spüren bekämen, die in einem Verfahren ergriffen worden seien, an dem sie nicht beteiligt sein konnten, hätten die Möglichkeiten, die die Rechtsordnung für ihre gerichtliche Kontrolle vorsehe, maximiert werden müssen.
Das Verhalten der Prozessbevollmächtigten der Betroffenen – die in ihren Klagen die ihres Erachtens bestehenden Gründe für die verspätete Erhebung der Klagen angesprochen, aber nicht dargelegt hätten und die in der mündlichen Verhandlung vor dem Gerichtshof der Europäischen Union nicht erschienen seien, so dass diese nicht habe durchgeführt werden können – schließlich kann nach Auffassung des Generalanwalts angesichts der besonderen Umstände des Falls keine Auswirkungen auf das Ergebnis seiner Schlussanträge haben.
Dementsprechend schlägt der Generalanwalt dem Gerichtshof der Europäischen Union vor, die Beschlüsse des Europäischen Gerichts, mit denen die Klagen als unzulässig abgewiesen wurden, aufzuheben und die Rechtssachen an das Europäische Gericht zurückzuverweisen, damit es über die Zulässigkeit der Klagen nach Anhörung der Parteien entscheidet.
Diese Schlussanträge des Generalanwalts sind für den Gerichtshof der Europäischen Union nicht bindend. Aufgabe des Generalanwalts ist es, dem Gerichtshof der Europäischen Union in völliger Unabhängigkeit einen Entscheidungsvorschlag für die betreffende Rechtssache zu unterbreiten. Die Richter des Europäischen Gerichtshofs treten nunmehr in die Beratung ein. Das Urteil wird zu einem späteren Zeitpunkt verkündet.
Gerichtshof der Europäischen Union, Schlussanträge des Generalanwalts vom 19. Dezember 2012 – C‑478/11 P [Gbagbo /Rat], C‑479/11 P [Koné /Rat], C‑480/11 P [Boni-Claverie /Rat], C‑481/11 P [Djédjé /Rat], C‑482/11 P [N’Guessan /Rat]
- Beschluss 2010/656/GASP des Rates vom 29.10.2010 zur Verlängerung der restriktiven Maßnahmen gegen Côte d’Ivoire (ABl. L 285, S. 28), geändert durch die Beschlüsse vom 22.12.2010, vom 11.01. und vom 14.01.2011 sowie vom 06.04.2011; Verordnung vom 22.12.2010 zur Änderung der Verordnung (EG) Nr. 560/2005 vom 12.04.2005 über die Anwendung spezifischer restriktiver Maßnahmen gegen bestimmte Personen und Organisationen angesichts der Lage in der Republik Côte d’Ivoire (ABl. L 95, S. 1), geändert durch die Verordnungen vom 14.01. und vom 06.04.2011[↩]
- EuG, Beschlüsse vom 13.07.2011 – T‑348/11 [Gbagbo/Rat], T‑349/11 [Koné/Rat], T‑350/11 [Boni- Claverie/Rat], T‑351/11 [Djédjé/Rat] und T‑352/11 [N’Guessan/Rat][↩]